Zuwachs beim Studium, Stagnation in der beruflichen Bildung – aktuelle Daten zur Qualifikationsstruktur Deutschlands
4.3.2015
Zur Publikation „Bildung und Qualifikation als Grundlage der technologischen Leistungsfähigkeit Deutschlands 2015“
Im internationalen Vergleich hat Deutschland einen relativ geringen Beschäftigungsanteil von akademisch qualifizierten Fachkräften in den wissensintensiven Branchen. Durch die in den letzten Jahren stark gestiegene Zahl an Studierenden, auch in den MINT-Fächern, und die leicht rückläufigen Anfängerzahlen in der beruflichen Bildung wandelt sich das gerade für Deutschland erfolgreiche Zusammenspiel von akademisch ausgebildeten Ingenieuren und beruflich qualifizierten Fachkräften. Aktuelle Befunde zur Entwicklung der Qualifikationsstruktur Deutschlands präsentiert ein soeben in der Reihe „Studien zum deutschen Innovationssystem“ erschienener Bericht.
Erstellt wurde die Studie, im Auftrag der Expertenkommission Forschung und Innovation (EFI), von einem Konsortium, bestehend aus dem Deutschen Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW) in Hannover, dem Niedersächsischen Institut für Wirtschaftsforschung an der Leibniz Universität Hannover (NIW) sowie dem Soziologischen Forschungsinstitut an der Georg-August-Universität Göttingen (SOFI).
Auf den ersten Blick sieht die Entwicklung der Studiennachfrage, gerade in den MINT-Fächern, nach einer Erfolgsgeschichte aus. Im Jahr 2014 nahmen erneut fast 500.000 Studienanfänger(innen) ein Studium auf. Fast 39 % von ihnen entschieden sich für ein MINT-Fach, also für einen Studiengang aus den Bereichen Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften oder Technik. Bei dieser Zahl müssen allerdings einige Sondereffekte berücksichtigt werden, etwa die doppelten Abiturjahrgänge, die immer noch zu einer höheren Studiennachfrage beitragen, aber auch die erneut gestiegene Studiennachfrage aus dem Ausland. Allein mehr als 86.000 der neuen Studierenden kamen im Jahr 2013 aus dem Ausland zum Studium nach Deutschland, also etwa jede(r) sechste Studienanfänger(in). Und von den Anfängerzahlen kann nicht direkt auf die Absolventenzahlen geschlossen werden, denn Fachwechsel und Studienabbruch müssen berücksichtigt werden. Vor allem in den MINT-Fächern ist der Abbruch überdurchschnittlich hoch. Dennoch blieben in den vergangenen Jahren Zahl und Anteil der Erstabsolvent(inn)en in den MINT-Fächern auf hohem Niveau stabil. Mehr als ein Drittel aller Erstabschlüsse entfiel zuletzt auf die MINT-Fächer.
In der beruflichen Bildung zeigt sich hingegen eine gegenläufige Entwicklung, sowohl insgesamt als auch bei den technologieintensiven und innovationsaffinen Berufen. Hier gehen die Anfängerzahlen seit 2006 tendenziell zurück. Eine Ausweitung ist, trotz der Modernisierung der Berufsbilder, nicht zu erkennen. Dieser Rückgang resultiert jedoch nicht aus einem fehlenden Interesse der Jugendlichen, sondern in erster Linie aus einem Mangel an Ausbildungsplätzen.
Das zurückgehende Interesse der Unternehmen an der Ausbildung auch in den technologieintensiven Berufen kann, so die Interpretation der Autoren, darauf zurückgeführt werden, dass „auch für anspruchsvolle Produktionstätigkeiten erhöhte Anforderungen an Überblickswissen sowie analytischen und sozialen Fähigkeiten entstehen. Dadurch bildet sich möglicherweise ein Kompetenzprofil heraus, das aufgrund der steigenden kognitiven Anforderungen oberhalb des traditionellen Facharbeiterprofils liegt“. Hochschulabsolvent(inn)en könnten diesem Kompetenzprofil möglicherweise besser entsprechen, insbesondere wenn sie ein Fachhochschulstudium und/oder einen anwendungsorientierten dualen Studiengang abgeschlossen haben. Die vielschichtigen Anforderungen in der Arbeitswelt belegt eine Auswertung der BIBB/BAuA-Erwerbstätigenbefragung für den Bericht, in der sich ein hoher Bedarf an außerfachlichen Kenntnissen (z. B. Projektmanagement oder kaufmännische Kenntnisse) vor allem auch in den MINT-Berufen zeigte. Die Voraussetzungen für die Industrie 4.0 wurden vor diesem Hintergrund im Bereich der beruflichen Bildung daher offenbar noch nicht geschaffen.
Abb.: Qualifikationsstruktur der Erwerbstätigen im europäischen Vergleich (in %)
Quelle: Europäische Arbeitskräfteerhebung (Sonderauswertung), Eurostat, Berechnungen des NIW
Die Qualifikationsstruktur in der Bevölkerung und bei den Erwerbstätigen ist das Resultat in der Vergangenheit erworbener Bildungsabschlüsse. Die aktuellen Entwicklungen in der beruflichen und Hochschulbildung machen sich bei einer Betrachtung über alle Altersgruppen hinweg zunächst nur wenig bemerkbar. Die in der Vergangenheit hohe Bedeutung der beruflichen Bildung in Deutschland schlägt sich in einem nach internationalen Maßstäben besonders hohen Anteil an beruflichen Abschlüssen auf der ISCED-Stufe 3, aber auch der höheren beruflichen Qualifikationen der Stufen ISCED 4 und 5b nieder (Abb.). Der Anteil der Erwerbstätigen mit einem Hochschulabschluss liegt dagegen mit 18,3 % weit unter dem etwa in den skandinavischen Ländern, den Niederlanden oder Großbritannien zu beobachtenden Wert. Auch und insbesondere in den wissensintensiven Industrien und Dienstleistungen setzt sich dieses Defizit fort. Die Unterschiede sind jedoch nur bedingt auf die Wirtschaftsstrukturen der einzelnen Länder zurückzuführen, sondern vielmehr auf die Struktur der Bildungssysteme und die Bildungsbeteiligung.
Die steigenden Studienanfängerzahlen und die zurückgehenden Zahlen in der beruflichen Bildung lassen vermuten, dass sich die Qualifikationsstruktur in Deutschland den europäischen Vergleichsländern annähern wird. Durch die höheren beruflichen Anforderungen dürfte auch die Nachfrage nach den höheren Qualifikationen steigen; die Warnungen vor einer zu starken Akademisierung der Bildung wären somit unbegründet.
Neben den Indikatoren zur beruflichen und zur Hochschulbildung sowie zur Qualifikationsstruktur enthält die Indikatorikstudie weitere Kapitel zur Beteiligung an Weiterbildung, zur internationalen Mobilität von Studierenden und Wissenschaftler(inne)n, zur Beteiligung deutscher Wissenschaftler an der EU-Forschungsförderung sowie eine Darstellung der reformierten ISCED-Klassifikation, die den internationalen Bildungsvergleichen zugrunde liegt, und der aktuellen Trends zu international vergleichenden Erhebungen des Kompetenzstands bei Erwachsenen.
Der Bericht ist als „Studie zum deutschen Innovationssystem 1-2015“ erschienen und ab sofort zum kostenfreien Download verfügbar: